Im Westen war das Schornsteinfegerwesen vor der Wende in etwa so organisiert, wie wir es heute kennen, mit Schornsteinfegermeistern, die, öffentlich bestellt, für einen ihnen übertragenen Kehrbezirk verantwortlich waren, mit Angestellten und Auszubildenden, in aller Regel in Innungen organisiert. Auch im Osten hatte man die traditionellen Kehrbezirke beibehalten und im Gegensatz zu vielen anderen Berufsgruppen hatte sich das Schornsteinfegerhandwerk eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt. Innungen hatte die DDR-Administration zwar aufgelöst, aber die Meister durften sich in Berufsgruppen organisieren. Auch ihre schwarze Berufskleidung und den Zylinderhut ließen sie sich nicht nehmen.
Für die Schornsteinfeger im Osten bedeutete die Wiedervereinigung die Übernahme weiterer Aufgabenbereiche; durch den zunehmenden Einsatz von Heizöl und Erdgas, neue Vorschriften zum Schutz der Umwelt und die Verfügbarkeit neuer Messgeräte und -techniken änderten sich die Aufgaben. Das bedeutete zwar nicht die Verbannung „vom Dach in den Heizungskeller“, aber die Arbeiten im Keller nahmen doch mehr Raum ein und die Überprüfung von privaten und gewerblichen Lüftungsanlagen kam neu hinzu.
Bernhard Kettner: Statt zur Tante erst mal in die Innung
Zur Zeit des Mauerfalls war Bernhard Kettner Bezirksschornsteinfegermeister in Weißensee. „Als Angehörige eines aktiven Christen und selbständigen Handwerksmeisters durften unsere Kinder trotz der sehr guten Noten in der Schule kein Abitur machen, weil wir nicht organisiert waren und sie nicht bei FDJ, den Jungen Pionieren und der Jugendweihe mitmachen ließen.“ Den Aufgaben im Osten entsprechend sei man technisch ganz gut ausgerüstet gewesen und habe fast immer die nötigen Materialien bekommen oder sich anders zu helfen gewusst. 1984 durfte Kettner davon ausgehen, dass er ausgesorgt hatte – falls er entschlossen war, in der DDR zu bleiben und sich direkt systemfeindlicher Umtriebe zu enthalten: Er bekam als Bezirksschornsteinfegermeister den gewünschten Kehrbezirk in Weißensee auf Lebenszeit und wurde 1988 in den Vorstand der Berufsgruppe Schornsteinfeger der Hauptstadt der DDR gewählt.
Als die politische Wende schon bevorstand, wurde ihm – zu seiner eigenen Überraschung – die lange ersehnte Vergünstigung zuteil. „Ich hatte den Antrag gestellt, zum 70. Geburtstag meiner Tante nach West-Berlin reisen zu dürfen und bekam tatsächlich die Genehmigung.“Mit seiner Loyalität gegenüber dem SED-Staat war es dann doch nicht soweit her, denn sein erster Weg führte ihn nicht zur Tante, sondern zu einem inoffiziellen Besuch in die West-Berliner Innung in der Westfälischen Straße. „Im September 1989 wurde ich herzlich aufgenommen und war von den modernen Büros sehr beeindruckt.“ Als besonderen Akt der „Subversion“ wollte er die illegale Einfuhr eines Kopierers organisieren, den die West-Berliner Innung zu bezahlen anbot.Dann ging alles ganz schnell. „Am späten Abend des 9. November 1989 standen meine Frau, mein Sohn Thomas und ich an der Bornholmer Brücke und riefen mit vielen anderen Bürgern Ost-Berlins ,Macht das Tor auf‘“, erinnert sich Bernhard Kettner. „Auf einmal öffnete sich die Schranke und wir stürmten in den Westteil der Stadt – welch ein Wunder.“
Einen kleinen Kopierer durfte man dann bereits im Dezember im Westen kaufen und offiziell einführen.Nach den ersten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März 1990 (die CDU unter Lothar de Maizière gewann) wurde sofort der Antrag auf Gründung einer Innung gestellt, natürlich gehörte Kettner zu den treibenden Kräften. Allerdings hielt die neue Eigenständigkeit nicht lange – bereits Ende 1990 fand im Hotel Steglitz international der Zusammenschluss mit den Kollegen im Westen statt. „Von Anfang an waren mehrere Ost-Berliner im neuen gemeinsamen Vorstand vertreten, ich wurde Schriftführer“, sagt Bernhard Kettner, der 1994 bis 1997 stellvertretender Obermeister und nach dem überraschenden Tod des damaligen Obermeisters vorübergehend sogar amtierender Obermeister war. Weil er das aber nicht bleiben wollte, verließ er den Vorstand und wurde nach der Bezirksreform von 2001 erster Bezirksinnungsmeister des nunmehr bevölkerungsstärksten Berliner Bezirks Pankow. Am 31. Dezember 2014 übergab er seinen Kehrbezirk an Sohn Stephan Kettner, der bereits seit 1992 in den Betrieb eingetreten war. Sein jüngerer Sohn Thomas ist heute übrigens Bevollmächtigter Bezirksschornsteinfeger in Spandau.
Michael Schmidt: Gruseln in der Stasi-Zentrale
Während in den meisten traditionellen Wohnhäusern im Osten stark schwefelhaltige Braunkohle verbrannt wurde, die den Himmel bräunlich-gelb färbte und dicke Rußablagerungen in den Schornsteinen hinterließ, verfeuerten die großen Wohnanlagen russisches Rohöl – was die Luft nicht besser, aber dafür viele Schornsteinfeger krank machte. Die drei Tage zusätzlichen Jahresurlaubs (21 statt 18), die sie sich dafür erkämpften, waren ein schwacher Trost. Dennoch machten sich die wenigsten DDR-Bürger allzu viele Gedanken über das Thema Umweltschutz. „Der Ruß war in Ost und West gleich schwarz“, schrieb eine große Berliner Tageszeitung zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Klingt gut, stimmt aber nur teilweise: Der Unterschied zwischen Ruß vom westlichen Heizöl und Ruß von Braunkohle und Rohöl im Osten war eklatant.
Von seinen Kreuzberger Dächern aus überschaute Bezirksschornsteinfegermeister Michael Schmidt einen großen Teil des Mauerverlaufs an der Grenze zwischen den beiden Teilen des heutigen Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Erkelenzdamm, Adalbertstraße, Mariannenplatz etc. „Die Grenze war direkt am Engelbecken, manchmal konnte ich dem Kollegen jenseits der Mauer ins Auge blicken“, sagt Schmidt. „Wir durften uns zwar nicht zuwinken, bewegten aber zum Gruß unauffällig Besen und Leiter.“ Nach der Wende war Michael Schmidt, damals als Landestechniker ein ausgewiesener Experte für Messtechnik, bei den Kollegen im Osten sehr gefragt. „Es gab am Anfang schon mal Berührungsprobleme, ich war ja im Kreuzberger Bezirksvorstand der CDU, also eher konservativ, nahm aber den Umweltschutz sehr ernst und nutzte die Schulungen im Osten immer zur Aufklärung.“
Als besonders „gruselig“ erlebte Schmidt die erste Abnahme einer neuen Heizungsanlage im Osten – ausgerechnet in der vormaligen Stasi-Zentrale in der Normannenstraße. „Da war kein Mensch zu sehen, ich fuhr rein, da gingen hinter mir lautlos die Stahltore zu; ich fühlte mich aus allen Ecken beobachtet.“ Schließlich fand sich doch ein Ansprechpartner.
Die beiden aus Ost und West zusammengesetzten Bezirke Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg boten natürlich die besten Voraussetzungen, um ein starkes Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Michael Schmidt findet, das sei gut gelungen: „Wir haben die Gemeinschaft schnell aktiv gelebt.“
Klaus Palmowski: Partnerschaft im Köpenicker Ratskeller besiegelt
Klaus Palmowski war 1990 Bezirksschornsteinfegermeister in Charlottenburg und Kassenwart der Bezirksgruppe. Nach dem Mauerfall bot auch er sich an, den Kontaktaufbau zu den Kollegen im Osten nach Kräften zu forcieren. „Ich war zwar einer der wenigen, die gar keine Beziehung in den Ostteil hatten, keine Verwandtschaft, keine Freunde, aber ich fand die Idee großartig, den Austausch und die Annäherung durch Partnerschaften zwischen West- und Ost-Bezirken zu unterstützen“, sagt Palmowski. Als man sich im Winter 1989/90 im Köpenicker Ratskeller traf, war das Eis schnell gebrochen – bei einige älteren Kollegen, die sich noch aus der Vor-Mauer-Zeit kannten, war die Wiedersehensfreude groß. „Die Kollegen mussten sich eben damit arrangieren, dass die DDR-Urkunden über die Vergabe ihrer Kehrbezirke auf Lebenszeit nichts mehr wert waren – und im Osten hatten sie mit dem Messen nicht viel am Hut.“ Weil das schwere russische Rohöl verheizt worden sei, das vor dem Gebrauch erst einmal angewärmt werden musste, damit es überhaupt flüssig wurde, habe es im Osten keine Erfahrung mit dem leichten Heizöl gegeben, das im Westen längst Standard war. „Die Kollegen konnten und wollten messen, hatten aber fast keine Geräte, in der ersten Zeit haben wir ihnen unsere gepumpt.“ Wie oft er damals nach Köpenick gefahren ist, kann Klaus Palmowski, der 1991 zum Bezirksinnungsmeister von Charlottenburg gewählt wurde, nicht mehr sagen. Oft jedenfalls!
25 Jahre später: Drei ausgezeichnete Herren
Dass ein Vierteljahrhundert vergangen sein soll, seit die Schornsteinfeger Ost und die Schornsteinfeger West nach langer Trennung wieder zueinander fanden und vom erweiterten Innungshaus in Wilmersdorf aus die gemeinsame Interessenvertretung – samt erfolgreicher Vertretung ihrer Anliegen gegenüber der Politik – aufnahmen, ist für viele kaum zu fassen. Andererseits: Die drei Herren, die im September 2015 vom amtierenden Landesinnungsmeister Heiko Kirmis für ihre langjährige ehrenamtliche Innungsarbeit ausgezeichnet wurden, heißen Michael Schmidt, Bernhard Kettner und Klaus Palmowski. Alle drei waren damals 40 und sind nun um die 65 Jahre alt, alle drei haben kürzlich ihre Kehrbezirke an ihre Nachfolger übergeben. Und alle drei haben viel dazu beigetragen, dass das Schornsteinfegerhandwerk in Berlin die Wiedervereinigung vorbildlich vollzogen hat.
Du muss angemeldet sein, um einen Kommentar zu veröffentlichen.